Wertvolle Unsicherheit(en)

 
Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort.
Hier können wir einander begegnen.
— Rumi
Ich setzte meinen Fuß in die Luft,
und sie trug.
— Hilde Domin, Lyrikerin

Das Streben nach Sicherheit hat meine Eltern Zeit ihres Lebens bestimmt. Das ist auf dem Hintergrund der fundamentalen Erschütterungen verständlich, die sie in Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt hatten. Und natürlich gaben sie diese oberste Direktive an uns Kinder weiter. Doch wohin hat es sie gebracht? Waren sie glücklich und vom Leben erfüllt? Hat es die Beziehung zu uns Kindern verbessert, dass sie sich nie auf unsicheren Boden begeben haben und alles schon wussten? Nicht wirklich. Und auch meine Lehrer und Lehrerinnen waren nicht anders. Bloß keine Unsicherheit! Aus einer Position der Macht wurden Fragen gestellt, auf die es genau EINE richtige Antwort gab.

aus: Helmut Fend (2008): Schule gestalten


1.Ein Buch

Wenn Eltern ihren Kindern ein Geschenk machen möchten, können sie ihren Kindern am besten beibringen, Herausforderungen zu lieben, sich von Fehlern faszinieren zu lassen, sich an Anstrengung zu erfreuen und weiter zu lernen.
— Carol Dweck, 2016, S.216
If the challenge we face doesn’t scare us, then it’s probably not that important
— Simon Sinek, www.simonsinek.com
 
 

Vor kurzem war ich auf einem “Art-of-Hosting”-Training und als es darum ging, die eigene Unsicherheit zu überwinden und eine Projektidee in der großen Gruppe vorzustellen, sagte eine junge Frau von 19 Jahren: “Wenn es keine Angst macht, ist es nicht groß genug!”

Ich war beeindruckt.

Das Selbstbild macht den Unterschied: Growth vs. Fixed Mindset

Carol Dweck, Professorin für Psychologie an der Stanford University, hat untersucht, wie das Selbstbild unsere Einstellung zum Lernen prägt. Sie unterscheidet dabei zwei Einstellungen oder “Mindsets”.

Menschen mit einem “Growth Mindset” (Wachstumsdenken, dynamisches Denken) glauben, dass sie sich durch Anstrengung und den Einsatz von Lernstrategien verbessern können. Sie suchen die Herausforderung und halten durch, auch wenn es mal nicht so glatt geht und Schwierigkeiten auftauchen. Fehler sehen sie nicht als Versagen, sondern als Lernmöglichkeit.

Dem gegenüber steht ein “Fixed Mindset” (statisches Denken): die Überzeugung, dass Persönlichkeit und Intelligenz fest fixiert sind und auch durch gezieltes Lernen nicht aus- und aufbaufähig sind. Diese Menschen scheuen Herausforderungen und geben bei Problemen schnell auf.

Die Forschung

Gerade erschien ein Artikel im deutschen Schulportal zu genau diesem Thema. Eine neue Studie zeigt nämlich, wie stark Motivation und Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler vom Mindset der Lehrkraft abhängen. Die Psychologin Katharina Asbury vom IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik erzählt in einem Interview, wie sich die innere Überzeugung der Lehrkraft auf die Kinder überträgt (https://deutsches-schulportal.de/bildungsforschung/growth-mindset-was-lehrkraefte-mit-dem-wachstumsdenken-bewirken-koennen).

Die gute Nachricht

Wir sollten uns da nichts vormachen: wir alle tragen beide Einstellungen in uns. Aber die gute Nachricht ist, dass sich ein Growth Mindset trainieren lässt.

Es ist lohnend, sich mit diesem Modell zu beschäftigen, denn diese Einstellungen begegnen uns ja überall. Nicht nur in unserer Familie und in Schulen. Auch in Firmen, in Teams, in Netzwerken, bei Kooperationspartnern, in der Kommune.


2.Ein Modell

Transition starts with an ending.
— William Bridges, www.wmbridges.com
Übergänge sind die poetischen Zonen des Lebens.
— Natalie Knapp, 2015, S. 10
 

Übergangsmodell von William Bridges

 

Alle Menschen kennen Situationen, in denen sie mit einer Veränderung konfrontiert waren, die entweder von außen kam oder ihre eigene Entscheidung war. In beiden Fällen ist man mit einem Prozess konfrontiert, der sich nach William Bridges in drei Phasen unterteilen lässt: Er beginnt - paradoxerweise - mit dem Ende (ending; Abschied; Loslassen), dann folgt die “Zwischenzeit” (neutral zone) und irgendwann gibt es einen Neuanfang (new beginnings).

Das klingt erst einmal unspektakulär, doch betrachtet man es von einem emotionalen Standpunkt, dann wird klar, dass diese Phasen Zeit und Aufmerksamkeit benötigen, um sie gut zu durchlaufen. Das wird aber oft vernachlässigt. Als Coachin für Orientierungsprozesse begegnet mir das sehr oft.

Schon die erste Phase des Loslassens oder Verabschiedens löst oft Gefühle aus, die sich unangenehm anfühlen können: Trauer, Angst oder Ärger.

Noch herausfordernder ist aber die zweite Phase, die sogenannte “Zwischenzeit”, denn diese ist geprägt von Unsicherheit(en). Es ist eine Phase des “Nicht mehr” und “Noch nicht”. Ein diffuser Schwebezustand, in dem es zu einem erheblichen Umstrukturierungsprozess unserer Identität kommen kann. Doch es ist der Kern des Übergangsgeschehens und es ist wichtig sich dafür Zeit zu nehmen, denn hier lassen sich wertvolle Entdeckungen machen. Bildlich kann es wie ein reißender Fluss oder eine Wüstendurchquerung erscheinen. Je nachdem kann dann ein Trittstein oder eine Oase helfen, den Weg zu bahnen.

Sind die ersten beiden Phasen gut durchlaufen, kann sich in der dritten Phase das Neue formieren.

Mir gefällt an dem Modell, dass gerade im “Dazwischen” die spannenden und wichtigen Dinge passieren - vorausgesetzt man nimmt sich die Zeit und hält die Ungewissheit, das kreative Chaos aus.


3.Ein Zitat

Übergänge sind kreative Freiräume, die stets Erneuerungen mit sich bringen. Es sind Phasen, in denen das Leben ein vielfaches seiner Kraft entfaltet und mit besonderer Intensität spürbar wird.
— Natalie Knapp, 2015, S.9

Bridges, William: Bridges Transition Model. https://wmbridges.com/about/what-is-transition (Zugriff: 15.10.2025)

Dweck, Carol (2016): Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt. München: Piper.

Knapp, Natalie (2015): Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind. Rowohlt

Sinek, Simon. https://simonsinek.com (Zugriff: 15.10.2025)