Der Anfängergeist
“Werde wieder wie ein staunendes Kind,
das die Welt entdeckt.
Jeden Augenblick neu.”
“Das habe ich noch nie gemacht,
also geht es sicher gut”
1.Eine (partizipative) Ausstellung
“Wo entdeckst du das Kind in dir?”
Mit dieser Frage wurde ich kürzlich bei einer Fortbildung in einer “Speeddating”-Übung konfrontiert.
Tatsächlich fielen mir sehr schnell mehrere Situationen ein, wo ich erst kürzlich zum Kind wurde, also mir selbst die Erlaubnis gab, zu spielen.
Vielleicht wurde es mir in der sehr empfehlenswerten Ausstellung “Für Kinder. Kunstgeschichten seit 1968” im Münchner Haus der Kunst auch besonders leicht gemacht. Ich bemalte den Marmorboden des ehemaligen Nazi-Prunk-Baus, baute nach Ólafur Elíassons Idee aus Tausenden weißen Legosteinen die Stadt der Zukunft (mit) und spielte mit überdimensionalen “Klötzchen”.
Es war eine ganz wunderbare, beglückende Erfahrung.
Vor allem, weil ich “Killerphrasen” wie: “man kann doch nicht im Museum den Boden bemalen” oder “Lego bauen? In deinem Alter? Echt jetzt?” hervorragend beiseite schieben konnte. Überall um mich herum machten ja kleine und große Menschen genau dasselbe: Spielen. Und Spaß haben. Miteinander und Nebeneinander. Der ehrwürdige Kunsttempel als großer Spielplatz!
Und ich konnte vielleicht mehr das Kind in mir entdecken als es damals in meiner Kindheit möglich war …
2.Eine (eigene) Erfahrung
“Erfahrung schließt die Beweglichkeit des Leibes ein, Erfahren ist eine Tätigkeit. Erfahren bedeutet aber auch Erleiden, indem sie aus einer Begegnung mit dem Fremden, Unbekannten und anderen resultiert. Daher hat sie es mit Widerstand, der Widrigkeit der Dinge zu tun.”
Mit Ausstellungsstücken ins Gespräch kommen
Streusandbüchse, Goldrubinglas, Potsdamer Stange, Brakteaten … seltsame Namen, geheimnisvolle Gegenstände und ihre Geschichte(n) bevölkern das Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte in Potsdam: bist du neugierig wie ein Kind?
Das Netzwerk “Kultur.Forscher!” lädt ein und viele kommen: Alumni, Studierende, Stiftungen, Lehrende, Kulturinstitutionen, Kunst- und Kulturvermittler:innen aus ganz Deuschland sind der Einladung zur kreuz&quer-Tagung im Mai 2025 nach Potsdam gefolgt. Das bundesweite Programm stärkt Kulturelle Bildung an Schulen durch forschendes Lernen – im Dialog zwischen schulischen und außerschulischen Partnern.
Heute wird die Kooperation der benachbarten Voltaireschule und dem Brandenburg Museum anhand eines Schüler:innen-Projektes vorgestellt. Alle Anwesenden sind eingeladen, selbst zum Kind zu werden und in der Ausstellung ästhetisch zu forschen. Aber wie geht das genau?
100 Fragen an ein Objekt: Geschichten entstehen …
Forschungsfragen legen Spuren für die Teilnehmenden und wir durchlaufen denselben Prozess wie die Schüler:innen. „Schau dich in Ruhe in der Ausstellung um und warte darauf, dass dich ein Ausstellungsobjekt besonders ‚anspricht‘, weil es dir spontan gefällt oder eine besondere Erinnerung bei dir auslöst oder dich außergewöhnlich irritiert oder dich ungewöhnlich stark abstößt“.
So starten wir in die Ausstellung und die Fülle an Exponaten und Erklärungstafeln macht die Auswahl erst einmal schwer. Aber irgendwann bleibe ich dann doch an einer Vitrine stehen. „Nimm dir Zeit für dieses Objekt und betrachte es aus unterschiedlichen Perspektiven ganz genau. Fertige eine Skizze an. Stelle Fragen an das Objekt“.
Ich habe mich für einen tiefdunkelroten „Rubinglasbecher“ aus dem Jahr 1680 entschieden. Ist da echter Rubin drin? Ist das Glas? Woher kommt die Farbe? Wie ist es, wenn man daraus trinkt? Ist der Becher schwer oder leicht? Wem hat er gehört, wer hat daraus getrunken? Wie kam er ins Museum? Nicht ganz 100 Fragen, aber doch eine ganze Menge, was mir so spontan in den Kopf kommt.
… zuerst im Austausch und auf dem Papier …
In der nächsten Phase können wir uns mit anderen austauschen und Schreibideen entwickeln, die auf dem Papier zu einem Monolog, Dialog, Gedicht, Tagebucheintrag oder Brief werden können.
Leichte Technik-Schwellenängste sind vorhanden, als wir zu einem professionellen Voice Recorder greifen sollen. Es siegt die Abenteuerlust.
Zum Schneiden mit dem kostenlosen Programm audacity reicht die Zeit nicht mehr. Auch nicht für besondere Geräusche oder Hintergrundmusik. Aber das lässt sich dann später daheim erforschen.
… und werden schließlich zum Hörspiel.
Hier könnt ihr meine Geschichte hören:
Win-Win-Win?
Kristian Petschko, Leiter der Vermittlung am Brandenburg Museum, erzählt in der Abschlussrunde offen über die Zusammenarbeit mit der Voltaireschule. Von seiner anfänglichen Skepsis in bezug auf das Hörspiel-Projekt und wie begeistert er danach von den Ergebnissen war. Nicht nur begeistert, sondern wirklich beeindruckt und auch berührt. Er gab auch ehrlicherweise zu, dass ihm der Faktencheck zum Abschluss wichtig war - schließlich geht es ja um historische Sachverhalte.
Für die Voltaireschule mit ihrem Profil “Ästhetische Bildung” und dem eigenen Unterrichtsfach “Werkstatt Ästhetische Horizonte” (WÄH) ist Kooperieren mit verschiedensten Kulturinstitutionen quasi Alltagsgeschäft. Und die kurzen Wege im Zentrum von Potsdam erleichtern und unterstützen diese Zusammenarbeit(en) vor Ort, z.B. mit fabrik, Rechenzentrum, Filmmuseum, Brandenburg Museum, freiLand, Lindenpark. Hier ist man definitiv gut vernetzt in Sachen Kultur.
Und “Win” auch für die Gäste der Tagung, für mich, denn die eigene Erfahrung ist essenziell.
3.Eine (künstlerische) Erprobung
“Wann hast du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal gemacht?”
Es war im November 2024 im Modul 2 des Weiterbildungsmasters “Kulturelle Bildung an Schulen”, als ich mich nicht ganz freiwillig in die Situation der Anfängerin begab.
Aus vier Kunstsparten - Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater - sollten wir einen uns eher “unvertrauten” Bereich auswählen, um das “erfahrungsbasierte Lernen” am eigenen Leib zu erfahren. Es wurde uns als eine “anregende Fremdheitserfahrung” und “die Erforschung unwägbarer Wege in den Künsten” angekündigt. Tatsächlich wussten wir überhaupt nicht, was uns erwarten würde.
Ich wählte die Sparte “Literatur”, da ich mit dem Schreiben als künstlerischer Praxis bisher am wenigsten Erfahrungen gemacht hatte. Am meisten gruselte mir ehrlicherweise vor dem Bereich “Theater”, da ich mich zu den eher introvertierten Menschen zählen würde. Ausgerechnet diese beiden Sparten sollten aber am 2. Tag der Erprobung zu einer Gruppe zusammengelegt werden.
Der Ort unserer Erprobung war besonders: Wir waren auf dem Marburger Landgrafenschloss zu Gast - viele Stufen in herrschaftlicher Lage über der Stadt gelegen. Es war bereits die erste Fremdheitserfahrung diesen - auch ein bisschen furchteinflößenden Ort - für vier Tage zu unserer künstlerischen Heimat zu machen.
Die Schriftstellerin Saskia Henning von Lange war unsere Wegbegleiterin in das unbekannte Land der Literatur und des Schreibens. Sicher kennen manche diese inneren Sätze, die so oder ähnlich klingen: “Ich kann nicht Schreiben”. Doch Saskia nahm uns mit auf die Reise und bevor wir überhaupt einen Stift zur Hand nahmen, suchten wir in der Umgebung nach Gegenständen, denen wir im nächsten Schritt Namen gaben.
Von einzelnen Wörtern arbeiteten wir uns weiter zu Sätzen und schließlich entstanden die ersten Geschichten. Da Saskia auf wunderbare Weise einen sicheren Rahmen herstellte, indem sie auch selbst viel von sich mitteilte, war der Austausch in unserer kleinen Vierergruppe sehr schnell sehr ehrlich, offen und wertschätzend. Wir ermutigten uns gegenseitig in unseren ersten Schritten. Wir waren als Schreibanfänger alle gleich - was für eine ungewohnte und wertvolle Erfahrung. Keine Expertise, keine Titel oder Hochschulabschlüsse trennten uns voneinander.
Ich könnte noch ewig weiter berichten über die Fotos, die wir mit unseren Gegenständen irgendwo im Schloss machen durften oder die Erfahrung von Widerstand, als ich einen Satz einer anderen Person in meine eigene Geschichte einbauen sollte. Oder die Herausforderung als wir am zweiten Tag mit der Theatergruppe zusammengelegt wurden und gemeinsam eine Abschlusspräsentation erarbeiten sollten. Mein Staunen über mich selbst, dass ich diese abschließende Theater-Performance mitmachte, ja sogar Spaß und Lust daran entwickelte.
Fazit
Nur ein Outcome von vielen: Ich denke gerade während ich hier diesen Blog schreibe, ob Saskias Schreibwerkstatt für mich ein wichtiges Fundament dafür gelegt hat. Ich glaube ja.
4.Ein Zitat
“Dort, wo man sich begegnet, gibt es weder totale Ignoranten noch vollkommene Weise - es gibt nur Menschen, die miteinander den Versuch unternehmen, zu dem, was sie schon wissen, hinzuzulernen.”
Fuchs, Thomas (2003): Was ist Erfahrung. In: Hauskeller, Michael (Hg.) (2003): Die Kunst der Wahrnehmung. Kusterdingen: SFG.
Hielscher, Matze (2021): Darf ich dich das fragen? 111 Fragen, um uns besser zu verstehen. Ahlden: beherzt.