Sei mein Gast

 
Leben einzeln und frei
wie ein Baum und dabei
brüderlich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser.
— Nazim Hikmet
Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme,
ein wenig Nahrung und großer Ruhe.
— Ralph Waldo Emerson, Philosoph und Schriftsteller

Daniel Spoerri, Begründer der “Eat Art”


1.Zwei Besuche

Es dreht sich alles um dich und
du bist nicht allein.
— Museum für Kommunikation, Bern, k-booklet, S. 9
Wie sollen sich Menschen fürs Museum interessieren, wenn sich das Museum nicht für die Menschen interessiert?
— Gallus Staubli, MfK, k-booklet, S.13
 

Im Frühjahr 2025 bin ich zweimal kurz hintereinander zu Gast im Museum für Kommunikation in Bern: Beim ersten Mal als neugierige Besucherin, die viel zu wenig Zeit dabei hat, um alles zu erforschen, was es dort zu tun, zu sehen, zu riechen, einfach zu erleben gibt. Wenige Wochen später im Rahmen einer Hospitation.

Angelockt hatte mich das neue Vermittlungskonzept in Form der Kommunikator:innen. Einzigartig irgendwie, weil die klassischen Arbeitsplätze im Museum – Kasse, Aufsicht, Vermittlung – in einem neuen Berufsbild zusammengelegt wurden.

Der Empfang ist freundlich, ich bekomme eine Eintrittskarte mit Übersichtsplan und einen Jeton, den ich an verschiedenen Stationen verwenden kann.

Keine Kommunikation ohne Erinnerung

Ich folge dem Tipp, dass ich in dem Bereich starten soll, der mich am meisten interessiert: “Memoire - was bewahre ich auf?”. Im Untergeschoss stolpere ich in eine Aktivität, der Check-in einer Schulklasse, von denen sich nach der Lautstärke zu urteilen, Dutzende gerade im Museum befinden. Ich werde (Ohren-)Zeugin einer besonderen Demonstration: das Dreiklanghorn eines Postautos wird ausgelöst und mir wird signalisiert, ich solle mir die Ohren zu halten. Der Einstieg in die Ausstellung ist für mich als Stille-Liebhaberin brutal. Die Schulklasse zieht weiter und es wird ruhiger. Ich beginne die Erkundung und mithilfe eines Audioguides werden mir Geschichten erzählt. Es gibt auch Geruchsstationen. Orange, mmm! Ich überlege, welche Erinnerungen ich mit dem Duft verbinde …

Am meisten berührt mich das Foto “Blick von Williamsburg nach Manhattan, 11. September 2001” des Fotografen Thomas Hoepker. Eine scheinbar entspannt wirkende Gruppe junger Menschen sitzt am East River und unterhält sich, während im Hintergrund Rauchschwaden aus den brennenden Twin Towers aufsteigen. Ich betrachte das Bild und höre aus dem Audioguide die Geschichte eines amerikanischen Lehrers, der sich erinnert, was er am 12. September zu seiner Klasse gesagt hat: “Nach diesem Tag wird die Welt nicht mehr so sein, wie wir sie kennen”. Und zum Abschluss höre ich die Frage: “Und wie haben Sie den 11. September 2001 erlebt? … ich weiß es noch ganz genau …

Unterschiedliche Bedürfnisse erkennen

Es tut mir gut, dass ich anfangs „in Ruhe gelassen“ werde, hatte ich doch befürchtet, dass sich die Kommunikator:innen quasi “auf mich stürzen” würden. Später erfahre ich, dass in der Ausbildung mit dem Riemann-Thomann Modell gearbeitet wird, um die unterschiedlichen Bedürfnisse der Besucher:innen zu erkennen (zu erahnen?) und darauf passend einzugehen entlang der Dimensionen “Nähe - Distanz” und “Dauer - Wechsel”. Bei mir klappt das.

Später im Erdgeschoss bei der Tagesaktion zu Fernsehgewohnheiten (“Was ist/war dein Lieblingsmoment vor dem TV?”) bekomme ich auf einmal Lust, in Kontakt zu gehen, mich auszutauschen. Trotz Sprachschwierigkeiten (Schwitzerdütsch!) komme ich mit der jungen Kommunikator:in in ein schönes Gespräch. Sie wirkt etwas unsicher und erzählt mir, dass sie gerade ein Praktikum macht im Rahmen ihrer Ausbildung bei der Post. Das Gute ist: es muss nichts vermittelt werden, es geht nur um den Austausch. Und als ich überlege, was mein Lieblingsmoment vor dem TV war, fällt es mir ein: Die erste Sendung, die in Farbe ausgestrahlt wurde. Etwas peinlich berührt schreibe ich es auf eine Karte und lege es auf den Tisch. So alt bin ich also? Wir haben beide unsere Unsicherheit überwunden und waren mutig. Sie hat sich getraut, die Frage zu stellen und ich habe ehrlich geantwortet. Wie schnell Vertrauen entstehen kann.

Luxusgut “Zeit”

Kommunikator:innen sind durch ihr Zeithaben und ihre Offenheit die Basis und das Sinnbild des Museums, das der Kommunikation gewidmet ist.
— Franziska Dürr, MfK, k-booklet, S. 41

Leider geht mir die Zeit aus, denn ich muss zum Zug. Ich hatte wirklich vorher keine Ahnung, wie viel es hier zu entdecken gibt. Ich beschließe, ich muss wiederkommen.

Wiederholungstäterin

Bei meinem zweiten Besuch einige Wochen später hospitiere ich einen Tag lang im Kommunikator:innen-Team vom morgendlichen Briefing (was steht an? welche Tagesaktion bieten wir an? wie viele Schulklassen kommen? welche Sprachen müssen wir abdecken?) bis zum Debriefing nach der Schließung (wie lief der Tag für jede/n einzelne/n?).

Wieder war es der Weiterbildungsmaster “Kulturelle Bildung an Schulen”, der mir diese Tür geöffnet hatte.

Ich begleite den Kommunikator Thomas bei seinen unterschiedlichen Aufgaben: Es geht los mit der Begrüßung einer Schulklasse mit einer gemeinsamen, spielerischen Aktivität. “Wie oft lügen Erwachsene am Tag? Schätzt mal!”. Es geht nicht um eine genaue Zahl, sondern um den Anstoß zum Nachdenken. Ich werde nachdenklich und bin leicht - verunsichert?

Dann beim Ticketverkauf an der Kasse. Beim Lösen eines technischen Problems (ein Drucker funktioniert nicht). Und beim Beantworten von typischen Besucher:innenfragen: Wo ist die Toilette, das Schließfach? Er ist einfach “ansprechbar” und man fühlt sich eingeladen.

Ich erfahre, dass die Team-Zusammensetzung immer die Sprachvielfalt der Besucher:innen widerspiegeln sollte. Das ist manchmal eine Herausforderung. Heute sind sie im Team zu acht.

Thomas ist ganz wach und aufmerksam im Kontakt. Mit mir und allen anderen. Es ist mir schon fast peinlich, dass ich ihm ein Loch in den Bauch frage. Er meint, das ist ja sein Job. Natürlich gibt er zu, ist es vormittags manchmal laut mit den vielen Schulklassen (denn das Museum ist im Prinzip ziemlich klein). Aber es zeigt ja auch, wie beliebt es ist. Und das hat ganz sicher auch mit den Kommunikator:innen zu tun, die zugewandte und liebevolle Gastgeber:innen sind.

Ein Fazit

Ich verlasse das MfK sehr inspiriert. Ich muss gestehen, ich finde die Arbeit der Kommunikator:innen sehr reizvoll. Vielfältig und abwechslungsreich wie die Besucher:innen. Und das Team. Von jung bis alt, von Praktikantin bis Ruheständler. Natürlich sind auch die Herausforderungen vielfältig und unberechenbar. Als Vermittler:in begibt man sich auf unsicheres Terrain, weil es im Dialog die perfekte Antwort nicht gibt - und nicht geben muss. Sie entsteht im Austausch und durch das eigene Forschen. Überraschenderweise nimmt man zu den vielen Antworten auch viele Fragen mit. Und Anregungen zum Weiterdenken und zum Weiterphilosophieren mit Freund:innen, Familie und Kolleg:innen.

Die Kommunikator_innen helfen uns also anzukommen, statt - wie leider so oft in Museen - durchzulaufen. Sie lassen sich mit jedem Besucher, jeder Besucherin auf eine ganz neue Erfahrung ein. Sie diskutieren, erklären oder lassen sich etwas erklären. Sie treten nicht als belehrende Expert_innen auf, sondern begegnen dem Publikum auf Augenhöhe. Sie holen die Interessierten dort ab, wo sie sind. Und wissen nicht, was dabei herauskommen wird.
— Hans Ulrich Glarner, Vorsteher Amt für Kultur, Erziehungsdirektion des Kantons Bern, k-booklet, S. 78

2.Eine Kunst

Veränderung geschieht, weil Gedanken, die betrachtet werden, sich anders verhalten als Gedanken, die unbetrachtet bleiben.
— David Bohm, 2014, S. 52

©Werner Ratering

 

Die Kunst, Räume für gute Gespräche zu schaffen

Im August 2025 nehme ich an einem “Art of Hosting and Harvesting” Training im Bildungshaus St. Arbogast in Vorarlberg teil. Ich hatte mich dafür angemeldet, weil ich neugierig war, wieder mehr über das “gute Gastgeben” zu erfahren.

Ich habe wenig Vorstellung davon, was mich erwartet, und bin mal wieder von mir selbst überrascht, dass ich mich freiwillig in eine (Groß-)Gruppensituation begebe. Wir sind ca. 80 Teilnehmende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Never host alone
— Hosting-Team des Trainings im August 2025 in St. Arbogast

Wir werden von neun “Gastgeber:innen” durch die drei Tage begleitet, manche erfahrene Trainer:innen, manche zum ersten Mal Teil eines Hosting-Teams. Mich fasziniert die Grundhaltung, dass egal bei welcher Aktivität, immer zwei Personen miteinander die Leitung haben und sich ergänzen. Es erinnert mich an die geteilte Klassleitung, wie ich sie an meiner früheren Montessori-Schule erlebt hatte.

Was mir besonders gefällt und nachhaltig in Erinnerung bleibt, ist die Betonung des “Ernte-Aspektes”, d.h. wir werden kontinuierlich dazu aufgefordert, in unseren “Ernte-Notizen” wichtige Gedanken und Erkenntnisse für uns festzuhalten.

Ein prall gefüllter Methodenkoffer

Von den vielen Methoden, die wir im Laufe des Trainings am eigenen Leib erfahren und ausprobieren dürfen – World Café, Pro-Action-Café, Wertschätzende Befragung, Open Space, Systemisches Konsensieren –, hat mich vor allem der “Dialogkreis” nachhaltig beeindruckt.

Der Dialog

Die Kernfähigkeiten oder Kernhaltungen umfassen

  • die Haltung eines/r Lernenden verkörpern

  • radikaler Respekt

  • Offenheit

  • von Herzen sprechen

  • (Generatives) Zuhören

  • Annahmen und Bewertungen suspendieren

  • Erkunden

  • Verlangsamung

  • Produktives Plädieren

  • die Beobachtenden beobachten.

Im Buch “Dialogische Intelligenz” von Martina, Johannes und Tobias Hartkemeyer werden diese ausführlich beschrieben. Jede einzelne dieser Dialogqualitäten weist den Weg zu einer Grundhaltung, nach der jede/r streben sollte. Im Privaten ebenso wie gegenüber Schüler:innen oder Kolleg:innen. Und auch Kooperationspartner:innen sollten miteinander idealerweise einen solchen wertschätzenden Umgang pflegen. Es geht nicht darum, diesen hohen Anspruch zu erfüllen, es geht ums Üben, ums Trainieren.

Die Fragen, vor denen wir heute stehen, können wir nicht alleine beantworten. Wir brauchen nicht nur einen individuellen, sondern einen kollektiven Wechsel, d.h. wir müssen lernen, nicht nur allein, sondern mit anderen zu denken.
— William Isaacs, 2010, S.87

3.Ein Künstler

Die Kunst ist ja da, in unserem Alltag, man muss nur üben, sie zu sehen.
— Daniel Spoerri, Begründer der "Eat Art"

Die Ausstellung

Im Herbst 2025 besuche ich in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg die Ausstellung über Daniel Spoerri “Ich liebe Widersprüche”.

Den Künstler habe ich erst im Juli dieses Jahres kennengelernt, als ich auf Hospitationsreise im Südtiroler Kultur.Forscher!-Netzwerk u.a. das Museion in Bozen besuchte. Ich erfuhr dort auch von einer besonderen Aktion des Museion in Zusammenarbeit mit La Rotonda Community Hub im Bozner Viertel Don Bosco, das von Spoerris Kunst inspiriert war.

Dieser hatte immer wieder versucht mit seinen “tableaux-pieges” (Fallenbilder) den auf eine Mahlzeit folgenden Augenblick “einzufangen” (eine “Falle zu stellen”). Alles was nach dem gemeinsamen Essen zurückblieb – schmutzige Teller, leere Weingläser, Brotkrümel – klebte er auf den Tisch bzw. die Tischdecke: eine greifbare Erinnerung an einen Moment des Miteinander-Teilens von Essen, Geschichten, Emotionen und Erinnerungen.

Eine ganz besondere Marende

Inspiriert von Spoerris Kunst fand im Mai 2025 im Bozner Stadtteile Don Bosco eine “Fluxus-Marende” statt, ein gemeinsames, nachbarschaftliches Essen im Rahmen der Kunst. Eine Gelegenheit, zusammenzukommen, zu essen und Kunst im Alltag zu entdecken. Angeleitet von Mitarbeitenden des Museion als “Gastgeber:innen”.

Nach dem Essen wurden die Teilnehmer:innen gebeten, die Umrisse ihrer Teller und Gläser auf die Tischdecke zu zeichnen und persönliche Gedanken zu notieren. Es entstand eine Art kollektive Karte.

Fazit

Ich bin fasziniert von diesem Ineinanderfließen von Alltag und Kunst und bekomme Lust, solch eine Aktion selbst einmal durchzuführen. Als Gastgeberin.

Ist Essen auch Geselligkeit und Geselligkeit auch Kunst? Ich glaube ja.

©museion.it

©museion.it

©museion.it

was ich tue? gefundene, vom zufall vorbereitete situationen so kleben, dass sie klebenbleiben, was hoffentlich dem zuschauer unbehagen bereitet. [...] handlanger des zufalls, das könnte meine berufsbezeichung sein.
— Daniel Spoerri, 1961

Bohm, David (2014): Der Dialog. Stuttgart: Klett-Cotta.

Hartkemeyer, Martina/Hartkemeyer, Johannes F./Hartkemeyer, Tobias (2016): Dialogische Intelligenz. Frankfurt/Main: info3

Isaacs, William (2010): Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Gevelsberg: EHP.

Museum für Kommunikation: k-booklet. https://www.mfk.ch/k-booklet/k-booklet-de.html (Zugriff: 15.10.2025)

Spoerri, Daniel (1961): Ein Augenblick für eine Ewigkeit. Katalog zur Ausstellung. Kunstmeile Krems.